Der Familienname Scharpf ist Kunst- und Kulturinteressierten in Kißlegg durchaus bekannt. Max Scharpf machte sich lange Jahre in der Gemeinde für sein Kulturengagement verdient und war unter anderem Mitbegründer des Heimatmuseums. Sein Sohn Hermann folgt heute den väterlichen Spuren. Er forscht über den Kißlegger Bildhauer Wilhelm Riedisser (1870-1933) und initiierte im Jahr 2010 eine Sonderausstellung zum 140. Geburtstag des Künstlers im Kißlegger Neuen Schloss. Vor kurzem gründete sich der „Initiativkreis Wilhelm Riedisser“, eine Gruppe von Personen, die den bedeutenden Bildhauer wieder in das Gedächtnis der Ortschaft zurückholen möchten. Ab dem Frühjahr 2016 soll ein Bronzeabguss von Riedissers Skulptur „Der Wächter“ den Kißlegger Schlosspark zieren. Wir treffen Dr. Hermann Scharpf in seinen Wohn- und Atelierräumen in Menelzhofen und wollen mehr über ihn und das Projekt erfahren.
Das alte Bauernhaus liegt am Waldrand, ein unbefestigter Feldweg führt die Besucher die Anhöhe hinauf. Seit über 30 Jahren hat sich Dr. Hermann Scharpf hier, inmitten des Allgäuer Idylls, seine Bildhauerwerkstatt und Wohnräume eingerichtet. Wohin man blickt, ob im Vorgarten, im langen Flur des alten Bauernhauses oder in der gemütlichen Wohnstube, entdeckt man Kunst. Büsten, die von den Regalen blicken, gerahmte Bilder an den Wänden, eine kleine Bronzeskulptur einer jungen Frau in der Mitte des Tisches. Ein alter Ofen dient funktional als Küchenzeile, ein junges Kätzchen liegt schlafend auf einem der Holzsessel neben dem Kachelofen. In der Luft liegt der Duft von frischem Kaffee.
Herr Scharpf, vielen Dank für die Einladung. Ich bin heute hier um mehr über Wilhelm Riedisser zu erfahren, über den Initiativkreis sowie das Projekt „Der Wächter“. Aber zunächst würde ich mich freuen, wenn Sie sich kurz vorstellen und erzählen, wie die ganze Geschichte überhaupt ins Rollen kam.
Hierzu muss ich ein wenig ausholen. Von meinem Vater, Max Scharpf, habe ich die Leidenschaft für die Kunst geerbt. Bereits als kleiner Junge blätterte ich in den Kunstbüchern bei uns in den Regalen. Hierbei entdeckte und entwickelte ich eine tiefe Liebe zur gegenständlichen Bildhauerei. Die überwältigende Schönheit und Anmut des menschlichen Körpers faszinierten mich schon damals. Viel Zeit verbrachte ich damit, Antiquitäten, die mein Vater nach Hause gebracht hatte, zu putzen und auszubessern.
Dies war wohl der Grund dafür, dass ich nach meinem Abitur ein Zahnmedizinstudium absolviert habe, denn ich wollte weiterhin handwerklich tätig sein. Als Zahnarzt sieht man sofort den Erfolg seiner Arbeit, man kann etwas Defektes reparieren und verschönern. Nach vierjähriger Assistenzzeit betrieb ich in Isny elf Jahre lang eine Zahnarztpraxis. Dennoch hat mich zunehmend die Monotonie dieses hochspezialisierten Berufes belastet, das sehr enge Arbeitsfeld, die angespannte und unnatürliche Arbeitshaltung. Der Umstand, unentrinnbar an den Halbstundentakt des Terminkalenders gefesselt zu sein, erzeugte in mir das Gefühl verlorener Freiheit. Von morgens bis abends habe ich mich über die Mundhöhlen meiner Patienten gebeugt, da blieb kaum mehr Zeit für meine anderen Interessen, die vorwiegend kunstgeschichtlich ausgerichtet sind. In mir wuchs zunehmend der Hunger nach einer Tätigkeit, die näher am Leben dran ist, in der man sich mit Politik, Kultur, Geschichte, Philosophie, Natur und Kunst im weitesten Sinne beschäftigen kann. Zwar schafft man als Zahnarzt ständig kleine Kunstwerke, jedoch ist die Krux an diesem Handwerk (Scharpf muss schmunzeln), dass, wenn Sie Ihre Sache gut machen, niemand das künstlerische Werk zu Gesicht bekommt.
Alles deutete quasi auf einen Berufswechsel hin?
Ja, ich wollte es jedoch nicht übers Knie brechen. Ausschlaggebend war letztendlich ein Gespräch mit einer Freundin, die damals Medizin studierte. Sie erzählte mir von einem Studienkollegen, der ursprünglich Archäologie studiert hatte, aber nun ins Medizinstudium gewechselt war. Natürlich wusste ich bereits davor, dass es den Beruf des Archäologen gab, aber erst dieses zufällige Gespräch traf den richtigen Nerv. Innerhalb einer Sekunde fällte ich die ganz klare Entscheidung: Ich werde Archäologie studieren! Dieser schicksalhafte Augenblick hat auch heute noch für mich die Bedeutung eines Gnadenaktes, weil alles, was sich daraus entwickelte, zu großer innerer Zufriedenheit führte.
Wie alt waren Sie zu diesem Zeitpunkt?
Ich war damals 41 Jahre alt, und dies war auch der Grund, warum ich mich zunächst schriftlich am Lehrstuhl in München erkundigte, ob man in diesem stolzen Alter überhaupt noch ein Studium beginnen kann. Ich wurde zur Studienberatung ins Institut für Klassische Archäologie eingeladen, das sich im gleichen Gebäude befindet wie das Museum für Abgüsse klassischer Bildwerke. Als ich durch die Abgusssammlung ging und inmitten der Gipsabgüsse stand, durchrieselte mich ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Ich war angekommen. Kurze Zeit später gab ich eine Anzeige zum Verkauf meiner Zahnarztpraxis auf und schrieb mich in die Fächer Klassische Archäologie, Vor- und Frühgeschichte sowie Alte Geschichte ein.
Wie ging es dann weiter?
Ich hatte zwölf Semester Studium vor mir und musste noch das Graecum nachholen. Ich pendelte zwischen München und meinem Wohnort im Allgäu. Die Seminare und Vorlesungen waren noch viel spannender als erwartet. Nebenbei arbeitete ich freiwillig im Museum für Abgüsse, verbrachte viel Zeit damit, die Skulpturen zu reinigen, zu restaurieren, abzuformen oder zu rekonstruieren. Ich lernte also die Methodik von Grund auf kennen. Daneben führte ich viele Abformungen am lebenden Körper durch, um dokumentarische oder künstlerische Körperabgüsse zu gewinnen. Ich habe ein unwiderstehliches Bedürfnis, alles Schöne, was ich sehe, festzuhalten und in Gips zu gießen, bevor es sich verändert und verschwindet!
Bis 2010 waren Sie dennoch einen Tag pro Woche als zahnärztlicher Urlaubsvertreter tätig?
Richtig, irgendwie musste ich mich ja auch finanziell während des Studiums über Wasser halten. Es dauerte einige Zeit, bis ich mich mit Arbeiten aus meinem neuen Tätigkeitsbereich durchbringen konnte. Das begann damit, dass mich eines Tages ein Hilferuf aus München erreichte: Das Münchner Siegestor wurde damals aufwendig restauriert und es wurde jemand gesucht, der Abgüsse auch unter widrigen Bedingungen anfertigen konnte. Meine Arbeit überzeugte und ich erhielt, durch Kontakte zu Künstlern, Restauratoren und Museen, Aufträge unterschiedlichster Art. So schuf ich zum Beispiel 16 „antike Modepuppen“ von Römern, Germanen und Gladiatoren für den Archäologischen Park in Xanten. Hierfür waren mir die langjährigen Erfahrungen mit Körperabformungen, mit unterschiedlichsten Abformungstechniken, sowie die archäologisch-wissenschaftliche Basis von großem Nutzen. Die Arbeiten verlagerten sich von München immer mehr hier in mein Atelier Hermes, das ich im Jahr 2000 gegründet hatte.
Hermann Scharpf nimmt einen tiefen Schluck aus dem Wasserglas, er erzählt diese Geschichte nicht häufig und ist vermutlich selbst überrascht, welche Fügungen das Leben manches Mal für einen Menschen bereithält. Nun haben wir viel über Hermann Scharpf erfahren, der zweite Teil des Gesprächs soll sich nun ganz Wilhelm Riedisser und der Wächter-Statue widmen. Auf der Sitzbank steht ein großer Karton Aktenordner. Insgesamt neun dicke Ordner füllen bereits die umfangreichen Recherchen und Aufzeichnungen Scharpfs rund um den Kißlegger Bildhauer. Irgendwann soll eine Monographie des Künstlers erscheinen.
Herr Scharpf, wie wurden Sie auf Wilhelm Riedisser aufmerksam?
In einem Münchner Antiquariat erwarb ich ein Buch von 1912 mit dem Titel „Moderne Plastik“. Beim Durchblättern blieb ich an der Abbildung eines Bronzereliefs namens „Arbeit und Ernte“ hängen. Im hinteren Teil des Buches fand ich alphabetisch angeordnet kurze Steckbriefe der versammelten Künstler. Ich staunte nicht schlecht, als ich las, dass das Relief von dem bis dahin vollkommen vergessenen Künstler „Riedisser Wilhelm, geb. am 21. Sept. 1870 in Kißlegg am Bodensee“ geschaffen worden war. Mittlerweile wissen wir jedoch, dass er 1870 in Gebrazhofen geboren wurde, im Jahr 1874 zog die Familie dann nach Kißlegg.
Ich war fasziniert von besagtem Werk und die weiteren, hochkarätigen Künstler in dem Band ließen darauf schließen, dass es sich bei diesem Riedisser um keinen gewöhnlichen Wald- und Wiesenkünstler handeln konnte, sondern dass er ein bedeutender Kunstschaffender seiner Zeit gewesen sein muss. Dies war der Grundstein meiner weiteren Recherchen. Mein erster Weg führte mich natürlich nach Kißlegg: Ich studierte Familienstammbäume, recherchierte in den Archiven aber fand kaum etwas über diesen bedeutenden Sohn der Gemeinde. Dies verwunderte mich und stachelte mich nur weiter an, mehr über diesen Künstler herauszufinden.
Hieraus entspann sich über die Jahre ein spannender Kunst- und Historienkrimi. Hermann Scharpf durchkämmte weitere Archive, durchforstete Kunst- und Auktionskataloge, stellte Nachforschungen in kunstgeschichtlichen Bibliotheken an. Immer wieder tauchte ein weiteres Detail aus dem Leben und Werk Riedissers auf, langsam fügte sich, Puzzlestück für Puzzlestück, die Geschichte des Kißlegger Bildhauers zusammen. 2010 organisierte Scharpf in Kooperation mit der Gemeinde eine Sonderausstellung im Neuen Schloss. Hier wurden erstmals das über Riedisser gesammelte Wissen sowie einige Werke des Künstlers gezeigt.
Im vergangenen Jahr erhielt ich den Anruf eines Herrn aus Berlin. Dieser hatte eine Villa am Wannsee geerbt und im Garten des Grundstücks eine Bronzeskulptur vorgefunden. Jedoch fehlte eine Signatur, es gab keinen Hinweis auf den dazugehörigen Künstler. Durch Zufall entdeckte der Villenbesitzer auf dem Dachboden einen Brief der ehemaligen Eigentümerin der Villa mit dem Hinweis: „Die Figur stammt von einem Münchener, in Italien lebenden Künstler Professor Riedisser – der wohl inzwischen verstorben sein wird – und wurde von meiner Mutter kurz vor dem 1.Weltkrieg erworben. Damals war diese Skulptur und eine andere von Prof. Riedisser „der Hirtenknabe“ in Marmor dem kaiserlichen Hof, der ein Werk des Künstlers erwerben wollte, angeboten worden und meine Mutter, der es darauf ankam den Künstler zu unterstützen, wollte das übrig bleibende Werk übernehmen. Der Hof entschied sich – wohl weil das Marmorwerk besser in die Umgebung passte – für den „Hirtenknaben“, der unterhalb der Orangerie in Sanssouci aufgestellt wurde und bis zur Besetzung, vielleicht auch noch jetzt, dort zu sehen war.“
Der jetzige Villenbesitzer googelte den Künstler und stieß, in Verbindung zur Sonderausstellung in Kißlegg, auf meinen Namen. Die Bronzefigur trägt nach einer Abbildung in einem Bericht zu einer Ausstellung Riedissers im Frankfurter Kunstverein von 1904 den Namen „Der Wächter“. Ein Zweitexemplar des Wächters befindet sich auf einem Rasenstück im Frankfurter Zoo. Ich fuhr natürlich sofort nach Berlin, um mir die Skulptur direkt vor Ort anzusehen. Sie war in einem restaurierungsbedürftigen Zustand, vor allem der Sandsteinsockel, und ich bot dem Besitzer an, diese Ausbesserungsarbeiten kostenfrei zu leisten, wenn er mir im Gegenzug erlaube, eine Abformung der Figur durchzuführen, um einen Abguss anfertigen zu können.
Und dieser Abguss soll nun im Frühjahr 2016 als Bronzeskulptur zurück nach Kißlegg kommen?
Richtig, aktuell sucht der „Initiativkreis Wilhelm Riedisser“ noch nach Unternehmern und Kißlegger Bürgern, die dieses Projekt durch Spenden finanziell unterstützen. Ich selber leiste meinen Beitrag damit, dass ich auf einen erheblichen Anteil der sonst für solche Arbeiten anfallenden Kosten verzichte. Riedisser gehörte zu den namhaften Künstlern seiner Zeit. Sein Heimatort hat allen Grund, stolz auf ihn zu sein und sein Andenken zu wahren!
Was wissen Sie über Riedissers Leben, über ihn als Mensch?
Aus zufällig entdeckten Briefen seiner Frau Ida, einer sehr charismatischen Person, konnte ich Rückschlüsse auf den Künstler ziehen. Er scheint ein Mann von eher zurückhaltendem Naturell gewesen zu sein, dem es schwer fiel, sich potentiellen Auftraggebern anzudienen. Sein ernsthaftes Wesen steht im Einklang mit der gewollten Schlichtheit seiner Werke. Die Skulpturen zeigen eine verhaltene, durchdachte, verinnerlichte Bildsprache, die sich an die Zeitlosigkeit, Ausgewogenheit und Sinnlichkeit klassischer antiker Plastik anlehnt. Obwohl er aufgrund seines Talentes in der damaligen Zeit als Künstler wahrgenommen wurde, begleiteten ihn immer wieder schwierige Lebensverhältnisse und schwankende Auftragslagen. Mit dem Ankauf einer Skulptur durch den Deutschen Kaiser Wilhelm II. für den Park von Sanssouci bahnte sich eine vielversprechende und erfolgreiche Phase an. Der Beginn des 1. Weltkrieges machte jedoch diese hoffnungsvolle Entwicklung zunichte. Riedisser musste 1915 von Florenz nach München zurückkehren. In einem Archiv entdeckte ich sein Testament und eine Nachlassakte. Sie enthüllt, dass er 1933 in Armut starb.
Haben Sie vielen Dank für das Gespräch. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei der weiteren Spendenakquise!
Ab Frühjahr 2016 soll die Bronzeskulptur „Der Wächter“ den Kißlegger Schlosspark zieren. Die Projektkosten belaufen sich auf insgesamt rund 20.000 Euro. Die ersten großzügigen Spenden sind bereits beim Initiativkreis eingegangen. Eine Verwirklichung dieses ambitionierten Projektes ist jedoch nur dann möglich, wenn viele weitere Spenden zusammen kommen. Der Initiativkreis bittet daher sehr herzlich um weitere Spenden. Bei Spenden ab einer Höhe von 50 € stellt die Gemeinde Kißlegg Spendenquittungen aus. Spender von Beträgen ab 1000 € werden langfristig beim Kunstwerk vermerkt.
Das Spendenkonto der Gemeinde Kißlegg i.A. des Initiativkreis Riedisser:
Betreff: „Spende Skulptur Riedisser“
Kreissparkasse Ravensburg: IBAN: DE55 6505 0110 0018 3011 48/ BIC: SOLADES1RVB
Volksbank Allgäu-West eG: IBAN: DE97 6509 2010 0470 4560 00 / BIC: GENODES1WAN
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