Die Kunst als Begriff ist weiblich. Nur stehen Frauen in der Kunst selten im Vordergrund – in den Ausstellungen dominiert meist das männliche Geschlecht. Höchste Zeit, etwas daran zu ändern: Vorhang auf für die Kißlegger Künstlerin Anne Carnein!
Sie war Meisterschülerin von Prof. Dr. Stephan Balkenhol, einem der renommiertesten Bildhauer Deutschlands. Ihr Arbeitsmaterial sind gebrauchte Kleidungsstücke und Garne, die sie in filigraner Handarbeit zu zarten Pflanzenobjekten formt. Es sind leise Arbeiten – der Besucher muss näher an die einzelnen Pflanzenobjekte heranrücken, um die Feinheiten und Details erkennen zu können. Anne Carnein, Jahrgang 1982, fasste für sich relativ spät den Entschluss Künstlerin zu werden. Erst der Kontakt mit Skulpturen von Jan Fabre und Stephan Balkenhol öffneten ihren Blick für die Kunst, wie sie sie heute versteht. Fünf Jahre studierte sie Bildhauerei an der Akademie Karlsruhe, belegte die Meisterklasse von Stephan Balkenhol. Heute arbeitet und lebt die Künstlerin in Kißlegg und erobert nun, vom Allgäu aus, den internationalen Kunstmarkt.
Ab 8. Januar wird eine Auswahl ihrer Werke in der Ausstellung „HERBARIUM“ im Neuen Schloss Kißlegg zu sehen sein. Ein schöner Grund, die Künstlerin in ihrem Atelier in Waltershofen zu besuchen.
Frau Carnein, welchen Begriff von Kunst hatten Sie, zu Anfang Ihres Studiums des Grafikdesigns?
Anne Carnein: Mein Kunstbegriff bezog sich damals, recht eingeschränkt, nur auf die Malerei. Ich muss dazusagen, dass ich aus einem kunstfernen Haushalt komme – in meinem Elternhaus hing kein einziges Bild an der Wand. Der Großteil meiner Familie war in der Landwirtschaft tätig, leistete täglich, durch die Arbeit auf dem Hof, einen Beitrag für die Gesellschaft. Die Kunst wurde bei uns im Haus dagegen als brotlos angesehen.
Mir wurde früh etwas Kreatives nachgesagt, daher entschied ich mich, nach meinem Abitur, für ein solides Grafikdesign-Studium. Erst im Laufe des Studiums lernte ich den erweiterten Kunstbegriff kennen und entdeckte meine Faszination für die Bildhauerei. Künstler wie Jan Fabre, der aus glänzenden Käfern Objekte klebt oder die wirklichkeitsgetreuen Holzskulpturen von Stephan Balkenhol begeisterten mich von der ersten Sekunde an und waren der Anstoß, Künstlerin zu werden. Bei meinem Aha-Erlebnis war ich Anfang zwanzig, es sollte noch einige Jahre dauern, bis ich diese anfängliche Idee, dann auch tatsächlich in die Tat umgesetzt und das Studium an der Kunstakademie in Karlsruhe aufgenommen habe.
Gab es für Sie damals einen Plan B?
Anne Carnein: Mein abgeschlossenes Grafikdesign-Studium gab mir damals die nötige Sicherheit. Notfalls hätte ich damit in einer Agentur anfangen können. Ich brannte einfach für die Idee, Künstlerin zu werden und wollte es zumindest versuchen. Wissen Sie, mir begegnen immer wieder Leute, die mir im Gespräch vorjammern „Oh, ich wollte auch einmal Kunst studieren…“. Die haben irgendwann aufgehört, an ihrem Traum festzuhalten und sitzen heute im Finanzamt. Diese Vorstellung finde ich ganz gruselig. Wenn ich etwas erreichen will, dann mache ich das und wenn es nicht klappt, dann bin ich eben um eine Erfahrung reicher. Aber ich muss es wenigstens versucht haben. Und ich hatte Glück: ich wurde als Studentin an der Kunstakademie angenommen und fühlte mich dort, vom ersten Tag an, zuhause. Dieses Studium, das war einfach ich. Im Nachhinein betrachtet, ist es eigentlich verrückt, dass ich diese Entscheidung so lange vor mir hergeschoben habe.
Nach fünf Jahren Studium kamen Sie in die Meisterklasse von Stephan Balkenhol
Anne Carnein: Das ist so nicht ganz richtig. Ich war von Anfang an in seiner Bildhauer-Klasse – ich hatte mich, bereits bei der Aufnahmeprüfung, explizit auf seine Klasse beworben. Sie müssen sich das Studium an der Akademie in Karlsruhe so vorstellen: die Akademie ist in einzelne Professorenklassen unterteilt. Es gibt drei Bildhauer Klassen, der Rest widmet sich der Malerei. An der Akademie hat man als Student viele Freiheiten und Zeit, sich und seinen Stil zu finden. Man kann sich ausprobieren, lernt verschiedene Methoden und Techniken kennen. Die Klassen sind jeweils einem Professor unterstellt, der aber nur für das Kunstverständnis und die Betrachtung von Kunst da ist, also keine Lehrerfigur im klassischen Sinne. Mit den Professoren diskutiert man über den Sinn und Unsinn der Kunst, und natürlich über die eigenen Werke und die eigene, künstlerische Entwicklung. Natürlich müssen Professoren wie Stephan Balkenhol neben ihrer Professur viele Aufgaben bewältigen und sind nicht permanent vor Ort. Auch damit muss man als Student umgehen können. Einige Kommilitonen scheiterten an diesem sehr liberalen Lehrkonzept – ich sah es hingegen als Chance. Ich brauchte letztendlich all die Freiheiten, um mich als Künstlerin finden zu können.
Ihre heutigen Arbeiten entstehen nicht aus den klassischen Bildhauer-Materialien Gips, Holz und Metall, sondern aus Stoffen und Garn. Wie kam es zu dieser außergewöhnlichen Materialauswahl?
Anne Carnein: Im Laufe des Studiums habe ich vielseitige Techniken ausprobiert und erlernt. Ich habe fotografiert, gedruckt, habe mich mit den, von Ihnen genannten, klassischen Materialien des Bildhauerstudiums befasst. Ich war auf der Suche nach einem Material, das sich gut modellieren lässt, mit dem ich das ausdrücken kann, was ich ausdrücken möchte. Ich habe ungern Staub an den Händen, daher fielen Ton und Gips von vornherein raus. Irgendwann kam ich auf die Idee, einzelne Kleidungsstücke von mir zu verarbeiten. Die Anfänge waren recht grob, aber mit der Zeit wurden die Arbeiten immer feiner. Ich mochte das Gefühl des Stoffes in meiner Hand, die Arbeit mit Garn und die Formbarkeit des Materials. Und letztendlich passten die Textilien auch gut zum Inhalt meiner Arbeiten: die Wesensverwandtschaft der Pflanzen zu den Menschen.
Das dürfen Sie uns noch ein bisschen genauer erklären.
Anne Carnein: Die Pflanzen, die ich aus Stoffen modelliere, sind als Metaphern für den Menschen zu verstehen. Ich mache nicht Kunst mit der Keule, sondern ich finde es schön, wenn ein Kunstwerk, beim zweiten oder dritten Betrachten, eine weitere Ebene aufzeigt, sich quasi vor dem Betrachter entblättert. So bin ich letztendlich auch zur Pflanze gekommen. Jeder sieht in meinen Werken eine andere Ebene. Wenn ein Ausstellungsbesucher beispielsweise vor einem Lavendelstrauch steht und sagt: „Ah, wie schön, ich fahre auch gerne in die Provence“, dann ist das vollkommen okay für mich. Manche Menschen dringen jedoch tiefer in das Werk ein und fördern subtilere Wesenszüge zutage.
Die Pflanzen als Sujet schützen mich aber auch vor dem direkten Blick des Betrachters. Egal ob es sich um Autoren oder Künstler handelt – in die Werke wird von außen immer viel hineininterpretiert und mögliche persönliche Lebensereignisse und Schaffensstationen der Künstler abgeleitet. Das ist mir zu persönlich, ich möchte nicht in jedem Werk erkannt werden.
Von außen betrachtet sieht so ein Leben als Künstler ja immer recht reizvoll aus, aber nur die wenigsten Künstler können tatsächlich von ihrer Kunst leben.
Anne Carnein: Richtig, nur 2,5 Prozent aller Akademie-Absolventen können später, allein von ihrer Kunst leben. Der schlimmste Moment ist, wenn man als Künstler frisch von der Akademie kommt und plötzlich realisiert: die Welt dreht sich nicht nur um dich und deine Kunst. In der Akademie ist Kunst alles, niemand stellt dich und dein Tun in Frage. Heute bin ich ein Ein-Frau Unternehmen, muss also, neben der Kunst, auch den ganz normalen Büro- und Organisationstätigkeiten nachgehen, Ausstellungen vorbereiten, meine Arbeiten fotografieren und mein Portfolio sukzessive ausbauen. Das Nähen geht nach ein paar Stunden auf die Hände und das Nagelbett – nach zwei Stunden nähen, schiebe ich daher meist eine Büroschicht ein.
Als Künstler benötigt man heutzutage ein großes Maß an Disziplin, ich behaupte sogar, dass heute ein undisziplinierter Künstler nie den Ruhm erlangen kann, wie das vielleicht früher der Fall war. Früher waren die Künstler den ganzen Tag betrunken, das Atelier sah chaotisch aus – das können wir uns heute gar nicht mehr erlauben. Auch als relativ junger Künstler hast du irgendwann deinen Zenit überschritten. Neue, junge Talente strömen tagtäglich auf den internationalen Kunstmarkt. Wir stehen unter einem permanenten Zeit- und Leistungsdruck und ohne eine gewisse Disziplin, wäre das Pensum gar nicht zu schaffen.
Ihre Einzelausstellung „HERBARIUM“ ist ja auch Teil der diesjährigen Kißlegger Veranstaltungsreihe „Fokus Frau – Frauen in Kißlegg erleben“. Nur selten stehen Frauen in der Kunst im Vordergrund. Sind Männer daher die besseren Künstler?
Anne Carnein: Auf keinen Fall. Ich denke, es liegt genau an dieser begrenzten Zeit, die man als Künstler hat, um ein gewisses Renommee zu erlangen: wenn man ein ernstzunehmender Künstler sein und mit seinem Werk vorankommen möchte, muss man sich zehn Jahre darin versteifen. Wenn man etwas zehn Jahre lang macht, dann ist man auch gut darin. Eine Frau kommt hier allein durch die Familienplanung aus dem Tritt. In dieser Zeit, wird sie von männlichen Künstlern auf dem Markt rigoros überholt.
Also sollte es auch eine Quote in der Kunst geben?
Anne Carnein: Ich halte bei Ausstellungen generell nichts von Quoten oder reinen Frauenausstellungen. Auch wenn es richtig tolle Ausstellungen sind, werden sie von außen als zweitklassig abgestempelt. Ich wäre eher für eine Quote bei der Besetzung von Führungspersonal in den deutschen Museen: Museen werden meist von Männern geleitet, Männer suchen wiederum männliche Künstler aus. Selbst Frauen suchen Männer aus. Männliche Künstler gehen mit einem ganz anderen Selbstverständnis ran, trauen sich mehr zu, da bleiben weibliche Künstler meist eher im Hintergrund. Es gibt schon einige tolle Museumsdirektorinnen, die tolle Häuser leiten. Das kommt langsam. Und je mehr Frauen man in diesen Positionen sieht, desto selbstverständlicher wird es auch in unseren Köpfen.
Kommen wir abschließend zu Ihrer Ausstellung „HERBARIUM“ im Neuen Schloss. Worauf dürfen sich die Leserinnen und Leser freuen?
Anne Carnein: Die Ausstellung wird eine Auswahl meiner Arbeiten beinhalten – der Titel „Herbarium“ steht ja für die Sammlung von Pflanzen und Kostbarkeiten, die man versucht, im trockenen Zustand, zu erhalten und zu typisieren. Ich freue mich auf das Experiment, meine teils kleinen, fragilen Arbeiten in diesen großen und herrschaftlichen Schlossräumen auszustellen. Das wird sicher eine Herausforderung. Neben meinen Arbeiten werden die Besucher aber auch eine Installation zu sehen bekommen, in der ich den Gedankengang zu den Kunstwerken thematisieren möchte. Vielleicht hängt an einer Stelle noch ein Mood-Board wie hier in meinem Atelier – so ganz habe ich meine Pläne noch nicht finalisiert.
Dafür ist das Rahmenprogramm zur Ausstellung bereits in trockenen Tüchern.
Anne Carnein: Richtig, neben einer Vernissage und zwei Führungen mit mir, wird es zwei Lesungen geben, die jeweils die Themen „Region“, „Heimat“ und „Europa“ thematisieren – Themen, die in unserer heutigen Zeit aktueller denn je sind. Ich habe in vielen Regionen Deutschlands gelebt, bin im Schnitt alle zwei Jahre umgezogen und bin als Nordlicht nun im Süden gelandet. Ich schätze es mittlerweile sehr, eine Heimat zu haben und an einem Ort verwurzelt zu sein.
Bei der Lesung aus dem Buch „Nirgendsland – eine Reise durch Europa“ am 14. Januar geht es um Europa und seine Regionen. Zwei Frauen, eine Künstlerin und eine Journalistin, haben ein Jahr lang Europa bereist und haben unterwegs Menschen gefragt, was sie über Europa denken. Am 28. Januar wird es dann eine Lesung aus dem Magazin „Mauerläufer – rund um den Bodensee“ geben, eine Sammlung regionaler Autoren und Künstler, die in diesem Band, Gedichte, Texte und Bilder zur Region zusammengetragen haben. Beide Bücher bedeuten mir persönlich sehr viel und ich würde mich freuen, den einen oder anderen Besucher bei einer Führung oder einer der Lesungen begrüßen zu dürfen.
Die Ausstellung „HERBARIUM“ von Anne Carnein ist vom 8. Januar bis 5. Februar 2017 im Neuen Schloss Kißlegg zu sehen. Die Vernissage findet am 8. Januar um 11:15 Uhr im Neuen Schloss Kißlegg statt. Zwei offene Führungen mit der Künstlerin (21. Januar und 4. Februar um jeweils 15 Uhr) sowie die beiden Lesungen (14. Januar, 17 Uhr: „Nirgendsland – eine Reise durch Europa“ und 28. Januar, 17 Uhr: „Mauerläufer – Jahresheft für Literatur und Kunst“) bilden das Rahmenprogramm.
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